Der Fall:

Die Vertragsparteien eines Bauvertrages haben die VOB/B (2002) als Vertragsgrundlage vereinbart. Der Vertrag wurde vom Auftraggeber „gestellt“. Die Auftragssumme belief sich auf ca. € 3.000.000,00 netto. Im Zuge der Baumaßnahme stellte der Auftraggeber noch vor Abnahme Mängel am Beton eines Straßenabschnittes fest. Die Beseitigung dieses Mangels erforderte einen Aufwand von ca. € 6.000,00. Nachdem der Auftragnehmer trotz Fristsetzung und Kündigungsandrohung gemäß § 4 Nr. 7 VOB/B (2002) die Mängel nicht innerhalb der Frist beseitigt hatte, entzog der Auftraggeber dem Auftragnehmer den Auftrag gemäß § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) in Verbindung mit § 8 Nr. 3 Abs. 1, Satz 1, Var. 1 VOB/B (2002).

Entscheidung:

Der BGH stellte mit Urteil vom 19.01.2023 (VII ZR 34/20) fest, dass die gemäß § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) i. V. m. § 8 Nr. 3 Absatz 1 Satz 1 VOB/B (2002) vorgesehene Möglichkeit der Auftragsentziehung bei Mängeln, welche vor Abnahme festgestellt werden, der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle nicht standhält. Gemäß § 307 Absatz 1 Satz 1, Absatz 2 Nr. 1 BGB sind diese Regelungen unwirksam. Der BGH verweist auf die ständige Rechtsprechung, wonach jede vertragliche Änderung der VOB/B dazu führe, dass die Einzelnormen der VOB/B einer Inhaltskontrolle nach den AGB-rechtlichen Schutzbestimmungen des BGB unterzogen werden. Der BGH sieht bei § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) die Möglichkeit einer unangemessenen Benachteiligung des Auftragnehmers. Nach § 307 Absatz 1 Satz 1 BGB ist eine formularmäßige Vertragsbestimmung unwirksam, wenn sie entgegen Treu und Glauben einen Vertragspartner unangemessen benachteilige. Eine derartige Benachteiligung wird vermutet, sofern von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abgewichen wird.

Eine gesetzliche Regelung im BGB, wonach wegen vor Abnahme festgestellter Mängel der Auftrag gekündigt werden kann, besteht nicht. Eine Abweichung vom gesetzlichen Leitbild ist allerdings auf Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung sachlich gerechtfertigt, wenn der gesetzliche Schutzzweck auf andere Weise sichergestellt ist. Die Regelung in § 4 Nr. 7 Abs. 3 VOB/B ermöglicht es dem Auftraggeber, schon bei ganz unbedeutenden Mängeln den Vertrag zu kündigen. Die VOB/B (2002) enthält keine Einschränkung. Insofern seien Vertragssituationen denkbar, in denen eine Kündigung gegen Treu und Glauben verstoßen würde. Diese ist z. B. bei einem unbedeutenden Mangel im Verhältnis zur Gesamtleistung der Fall. Da es ausreiche, wenn die Möglichkeit bestehe, dass in Einzelfällen gegen Treu und Glauben verstoßen wird, sei die Regelung gemäß § 307 Absatz 1 Satz 1 BGB unwirksam.

Nach der Feststellung des BGH besteht unabhängig von der Kündigungsmöglichkeit gemäß § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B (2002) allerdings noch die Möglichkeit, den Vertrag aus wichtigem Grund zu kündigen. Dies müsste dann in jedem Einzelfall geprüft werden.

Hinweis:

Die Entscheidung des BGH hat einschneidende Folgen für die Praxis. Sie kann sich auch auf alle anhängigen Rechtsstreitigkeiten auswirken, bei denen der Auftraggeber den VOB/B-Vertrag gestellt hat und bei denen es zu einer auftraggeberseitigen Kündigung gem. § 4 Nr. 7 Satz 3 VOB/B gekommen ist.

Da im Regelfall in Verträgen eine Abweichung von der VOB/B (2002) vereinbart wurde, kann sich der Auftragnehmer, sofern er nicht selbst den VOB/B (2002)-Vertrag gestellt hat, auf die Unwirksamkeit der Kündigung berufen. Es besteht dann für den Auftraggeber nur noch die Möglichkeit, nachzuweisen, dass der Vertrag auch aus wichtigem Grund gekündigt werden durfte. Da die Rechtsprechung jedoch sehr hohe Anforderungen daran stellt, ob ein wichtiger Grund zur Kündigung vorliegt, dürfte in der Mehrzahl der Fälle diese Kündigungsmöglichkeit nicht bestehen. Dieses kann für den Auftraggeber die fatale Folge haben, dass seine Kündigung als „freie Kündigung“ gemäß § 8 Absatz 1 Nr. 2 VOB/B (2002) zu beurteilen ist. Das heißt, der Auftragnehmer kann die volle Vergütung unter Abzug der ersparten Aufwendungen geltend machen.

Empfehlung:

Zu überlegen ist, ob die Auftraggeber in Vertragsentwürfen zukünftig die Regelung in § 4 Absatz 7 VOB/B (2002) abändern. So könnte aufgenommen werden, dass ein Kündigungsrecht nicht besteht, sofern es sich um unwesentliche Mängel handelt. Ob eine derartige Regelung vom BGH akzeptiert werden wird, bleibt abzuwarten.

Im Ergebnis ist festzustellen, dass die durchaus sinnvolle Regelung in der VOB/B (2002) zur Kündigung von Aufträgen bei Mängeln vor Abnahme nunmehr im Regelfall nicht mehr besteht. Für Auftraggeber ist es dadurch noch schwieriger, wegen vor Abnahme festgestellter Mängel den Vertrag zu kündigen.