Viele Unternehmen beschäftigen sich aktuell mit der Frage, ob sie aufgrund der zu erwartenden Beeinträchtigungen durch den Ukraine-Krieg dazu berechtigt sind, von in Vergabeverfahren unter-breiteten Angeboten wieder Abstand nehmen bzw. diese nachträglich anpassen zu dürfen. Schon aufgrund der Corona-Krise war die Lage vor allem in der Baubranche zuletzt stark angespannt. Auch der deutliche Anstieg der Roh- und Kraftstoffpreise wird die schwierige Lage am Markt weiter anheizen. Eine Prognose, wie sich diese Entwicklungen fortsetzen werden, kann derzeit keiner ver-lässlich treffen, was unmittelbaren Einfluss auf in Vergabeverfahren abzugebenden Angebote hat.
Vor diesem Hintergrund drängt sich zunehmend die Frage auf, wie von Seiten öffentlicher Auftraggeber, aber auch Bietern aus vergaberechtlicher Sicht zu reagieren ist. Wie ist vor allem mit laufenden Vergabeverfahren umzugehen, die noch nicht durch Zuschlag beendet sind? Als Herren des Vergabeverfahrens haben öffentliche Auftraggeber verschiedene Möglichkeiten, auf die Situation vor Ort zu reagieren.
In Vergabeverfahren, in denen zwar die Angebote bereits vorgelegt wurden, aber der Zuschlag noch nicht erteilt ist, werden aktuell in einer Vielzahl von Fällen unangemessene niedrig gewordene Angebotspreise festzustellen sein. Die Preisexplosionen dauern an und sind in einer Vielzahl von Fällen, in denen Angebote bereits vorgelegt wurden, von den Bietern noch nicht berücksichtigt worden.
In Bauvergabeverfahren gilt nach § 16d Abs. 1 Nr. 1 VOB/A-EU, dass ein Zuschlag auf ein Angebot mit unangemessen niedrigem Preis nicht erteilt werden darf. Gemäß § 16d Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU sind öffentliche Auftraggeber verpflichtet, die Angemessenheit der Preise zu untersuchen und Bieter ggf. zur Aufklärung ihrer Preise aufzufordern. Die Regelung diente bislang vor allem dazu, konkurrierende Bieter vor einem Verdrängungswettbewerb zu schützen. Gleichsam dienen sie dazu, den öffentlichen Auftraggeber davor zu bewahren, etwaige Leistungsausfälle befürchten zu müssen, weil der Bieter den von ihm angebotenen Preis letztlich nicht halten und damit nicht liefern kann.
Nun tritt ein weiterer Schutzzweck hinzu: Im Einzelfall kann es in der aktuellen Situation tatsächlich angezeigt sein, den Bieter vor der Bezuschlagung des von ihm selbst unterbreiteten Angebotes zu schützen. Zwischen Angebotseinreichung und Zuschlagsentscheidung bzw. der Bindefrist kann sich der Bieter grundsätzlich nicht darauf berufen, sich an seinem Angebot nicht festhalten lassen zu wollen. Er kann allenfalls den öffentlichen Auftraggeber darauf aufmerksam machen, dass sein Angebot, (inzwischen) nachträglich unangemessen niedrig ist und daher im Rahmen der vorstehend in Bezug genommenen Preisprüfung nicht bezuschlagt werden darf.
Insofern sind die öffentlichen Auftraggeber aufgerufen, kritisch zu prüfen, inwieweit im Einzelfall eine Überprüfung der Angemessenheit der Preise erforderlich ist und ggf. vor Zuschlagserteilung darüber zu befinden ist, ob die unterbreiteten Angebote aufgrund nachträglich unangemessener niedriger Angebotspreise (inzwischen) ausgeschlossen werden müssen. Ggf. wäre das Vergabeverfahren in den Zeitpunkt zurückzuversetzen, zu welchem die Bieter zur Angebotsabgabe aufgefordert wurden, und sodann unter Berücksichtigung der neuen Umstände neue Angebote einzuholen.
Soweit die Vertragspartei nichts anderes vereinbaren, sieht die typische Risikoverteilung das Risiko von Materialknappheit sowie Preissteigerungen von Baumaterialien ausschließlich beim Auftragnehmer, der das Beschaffungs- und damit auch das Preisrisiko trägt. Damit hat der Auftragnehmer auch etwaige spätere Verzögerungen der Leistungserbringung zu vertreten, wenn er sich bei Vertragsschluss auf die Möglichkeit kurzfristiger Beschaffung von erforderlichen Baumaterialien verlassen hat und nunmehr eine Verteuerung dies erschwert oder verzögert.
Vor allem die Bau- und Rohstoffpreisentwicklung wie auch die Entwicklung des Diesel- und Benzinpreises, bürden den Bietern derzeit ein ungewöhnliches Wagnis gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 VOB/A-EU auf. Ein solches ungewöhnliches Wagnis ist unzulässig. Das Beschaffungs- und damit das Preisrisiko hat insoweit seine Grenzen. Ein Bieter darf zu seinem Schutze keiner Situation ausgesetzt werden, in der ihm seine Preiskalkulation aufgrund außerhalb seiner Sphäre liegender Faktoren unzumutbar erschwert und ihm damit ein Risiko aufgebürdet wird, welches die übliche Risikoverteilung deutlich übersteigt. Aktuell haben Bieter weder Einfluss auf die Kriegssituation in der Ukraine noch auf die Sanktionsfolgen. Die aufgrund des Ukraine-Krieges auftretenden Preisexplosionen sind derart außergewöhnlich und unvorhersehbar, dass sie keiner Risikosphäre zugeordnet werden können.
In Fällen von Bauvergaben trägt der Auftragnehmer zwar grundsätzlich das Preisrisiko für die Materialbeschaffung, was allerdings nur dann gelten kann, wenn die Preise tatsächlich kalkulierbar waren. Nicht selten wird dies derzeit nicht möglich sein. Sofern entsprechende Bieterfragen auftreten, gilt also hierauf zu reagieren. Regelmäßig wird insoweit eine Erweiterung der Vertragsunterlagen, um beispielsweise geeignete Stoffpreisleitklauseln erforderlich werden. Dieses Vorgehen ist vor allem angezeigt, da in Fällen, in denen bei Vertragsschluss die aktuellen Umstände bereits bekannt waren, noch nicht absehbar ist, wie die Rechtsprechung solche Fälle einstufen wird. Es ist z. B. nicht gesichert, dass sie beispielsweise von höherer Gewalt ausgehen wird und damit bei Bauverträgen die Bestimmung des § 6 Abs. 2 Nr. 1c VOB/B für einschlägig erachtet. Mittels Preisanpassungsklauseln können aber die von den Parteien jeweils übernommenen vertraglichen Pflichten und Risiken auch unter Berücksichtigung der Folgen des Ukraine-Krieges angemessen „fortgeschrieben“ werden.
Denkbar ist des Weiteren, dass es zu erheblichen Lieferengpässen und Ausfällen kommen kann, was sich sodann zwangsläufig auf die Auftragstermine auswirken wird. D. h., auch terminliche Aspekte können zum Aufklärungsgegenstand werden.
Gem. § 15 Abs. 1 Nr. 1 VOB/A-EU darf der öffentliche Auftragnehmer in seinem pflichtgemäßen Ermessen die Aufklärung der Erfüllbarkeit etwaiger Auftragstermine vornehmen; eine Handlungspflicht ist zumindest im Falle von Bauvergaben also nicht zwingend. Gleichwohl wird angesichts der aktuellen Krisen zumeist davon auszugehen sein, dass sich das pflichtgemäße Ermessen auf Null reduziert, also aufgrund der aktuellen besonderen Umstände eine Aufklärung der Erfüllbarkeit von Auftragsterminen letztlich doch nahezu zwingend erscheint.
Da ein dennoch erteilter Zuschlag im Einzelfall gar als Vergabeverstoß gewertet werden könnte, sollte dies nicht unbeachtet bleiben. Auch gemäß den Grundsätzen von Treu und Glauben gilt, dass der öffentliche Auftraggeber jedenfalls nicht sehenden Auges ein Angebot bezuschlagen darf, bei dem er bereits bei Zuschlagserteilung Zweifel an der Umsetzbarkeit wesentlicher Teile des Auftrages hat.
Solange der Zuschlag noch aussteht, dürften die vorstehenden Aspekte durchgreifen. Öffentliche Auftraggeber sollten daher aktuell die Preise und die weiteren Entwicklungen, insbesondere im Bau- und Rohstoffpreissegment, wie auch ggf. terminliche und sonstige betroffene Aspekte umfassend aufklären. Regelmäßig dürften alle Angebote eines Verfahrens von den unvorhersehbaren Marktentwicklungen betroffen sein, dies wird nicht nur einzelne Bieter betreffen. Ist dies der Fall, können Verfahren zurückversetzt werden, damit Bieter Gelegenheit zur Überarbeitung der Angebote erhalten. Zudem wird es regelmäßig angezeigt sein, über eine Erweiterung der Vertragsunterlagen um geeignete Preisklauseln nachzudenken. Sollte ein öffentlicher Auftraggeber hingegen die aktuelle Situation nicht berücksichtigen und ohne weitere Prüfung gleichwohl den Zuschlag erteilen, könnte hierin ein erheblicher Verstoß gegen bestehende Rücksichtnahmepflichten aus §§ 241 Abs. 2 BGB und den Grundsätzen von Treu und Glauben liegen, der wiederum einen schweren Mangel im Vergabeverfahren darstellt. Gerade im Falle von geförderten Vergaben, sollte mithin dringlichst darauf geachtet werden, keine solchen Vergabefehler zu provozieren.
Aus Sicht der Bieter gilt, dass sie auf die (nachträgliche) Unauskömmlichkeit ihrer Preiskalkulation sowie die Unmöglichkeit der Einhaltung von Auftragsterminen hinzuweisen haben. Ggf. ist dies unmittelbar zu rügen, um so die notwendigen Voraussetzungen für ein Vergabenachprüfungsverfahren zu schaffen.